Leseprobechor2a

 

 

 

 

Einführung


Einen ganzen Chor stimmbildnerisch zu betreuen ist problematisch!
Jede Stimme besitzt eine individuelle eigene Klangcharakteristik und Veranlagung. Das Bestreben des Stimmbildners, einen homogenen Chorklang zu erreichen, ist somit eine große Herausforderung.
Funktionale Stimmentwicklung basiert auf der individuellen „Behandlung“ einer Stimme. Die Vorgehensweise des Gesangslehrers wird normalerweise durch die auditive Wahrnehmung eines einzelnen Sängers bestimmt.
Die Förderung der stimmlichen Leistungsfähigkeit eines Chors auf der Basis der klangorientierten funktionalen Stimmentwicklung muss neu formuliert werden, da das individuelle Training jeder einzelnen Stimme im Chor nicht umgesetzt werden kann.
Anmerkung: Beim Sologesang kann man empathisch auf den individuellen Klang und die Funktion der einzelnen Stimme reagieren und maßgeschneiderte Übungen entwickeln, die die Stimmlippenfunktion lenken und erweitern. Man geht davon aus, dass die zwei weiteren Aspekte der Funktionskette, die Körperspannung (der Antrieb, der Atem) und die Resonanz (die Klangveredlung) weitgehend reflektorisch auf die Stimmlippenfunktion reagieren und deswegen eine sekundäre Stellung im Bewusstsein des Sängers und des Lehrers bekommen. Im Gegensatz hierzu soll nun aber der Chorstimmbildner gerade diese zwei Aspekte in den Vordergrund stellen, und zwar deshalb, weil er sich nicht mit jedem individuellen Stimmergebnis auseinandersetzen kann. So muss er zwangsläufig auf die zwei Rahmenbedingungen der Klangquelle und der Kehlkopffunktion eingehen.

Körperspannung (aktives Stehen) und Resonanzraum

Singen: Mit dem Körper, mit dem Raum!
Mit dieser Kurzformel kann der chorische Stimmbildner eine effektive Leitidee entwickeln. Die Aufforderung an die Chormitglieder, sich auf Atem und Resonanz zu konzentrieren, ist allerdings etwas konträr zu der klangorientierten funktionalen Stimmentwicklung.
Weder bei einer kammermusikalischen Gruppe von 16 Sängern noch bei einem Chor von 80 Mitgliedern oder mehr ist die Möglichkeit gegeben, einzelne Stimmen genau herauszuhören. Ebenso wenig kann man in der Gruppensituation den Einzelnen ansprechen, um dessen stimmliche Mängel oder „Probleme“ zu lösen.
Der Stimmbildner muss mit dem Chorklang im Gesamten arbeiten, ohne auf die einzelne Stimmleistung eingehen zu können. Er bewältigt diese Situation mit einer veränderten Methodik.
Wir erinnern uns: Das funktionale Singprinzip ist aus Sicht des Lehrenden die Fähigkeit

  • den Stimmklang empathisch zu hören
  • zu analysieren, zu diagnostizieren und entsprechend zu handeln
  • die Dualität des hell / dunkel zu verstehen und zu prüfen
  • die diffizile Fusion der „weiblichen“ und „männlichen“ Stimmregister zu erreichen
  • das Zusammenwirken von Klang und Sprache.

Adaption des Prinzips (Anpassung an die Chorsituation)

Die duale Fähigkeit der Stimmlippen, sich zu dehnen und/oder zu verdicken, ermöglicht die Ausführung der Klangparameter Tonhöhe, Tonstärke und Tonfarbe (Vokal). Ein lauter tiefer Ton auf dem Vokal „a“ gesungen fördert eine dicke Beschaffenheit der Stimmlippen; ein leiser hoher Ton auf dem Vokal „u“ gesungen fördert eine schlanke Beschaffenheit der Stimmlippen. Eine große Vielfalt unterschiedlicher Klänge ist die Voraussetzung für den Kunstgesang. Dies erreicht man mit Übungen aus verschiedenen Kombinationen von Tonhöhe, Tonstärke und Tonfarbe. Wie schon erwähnt, hat jedes Chormitglied sehr unterschiedliche individuelle stimmliche und musikalische Veranlagungen, die bei der chorischen Stimmentwicklung nicht als solche berücksichtigt werden können. Trotzdem ist das unmittelbare Ziel nicht in erster Linie die Verbesserung des Chorklangs in ästhetischem Sinne, sondern zunächst eine Verbesserung der Stimmfunktion der Chormitglieder, was zu einer Verbesserung des Chorklangs und letztlich zu einer Erweiterung der Ausdrucksfähigkeit führt.
Die auditive Wahrnehmung des Chorklangs ermöglicht dem Stimmbildner oder Chorleiter, mit Übungen zu reagieren, die zuerst die funktionale Gesangsleistung aller Chormitglieder erhöhen. Ein zu harter und unflexibler Gesamtklang muss weicher und beweglicher werden, ein zu weicher und verhaltener Gesamtklang kerniger und vordergründiger.
Ziel ist eine Verbesserung des klanglichen und dynamischen Umfangs, der Intonation, der Artikulation und der stimmlichen Flexibilität.
Die Erwartungen, die an eine chorische Stimmentwicklung gestellt werden, sind abhängig von der Struktur und Art des Chors sowie von den persönlichen Erfahrungen und Klangvorstellungen des Stimmbildners bzw. Chorleiters.

Die folgenden Übungen befassen sich deshalb nicht mit ästhetischen Vorstellungen, sondern mit der grundsätzlichen Verbesserung der stimmlichen Funktionen, um damit die Voraussetzungen für die Verwirklichung der musikalischen Vorstellungen des Chorleiters zu schaffen. Die konkrete Vorgehensweise muss der jeweiligen Situation angepasst werden. Eine verbindliche Reihenfolge von Übungen im Sinne eines Curriculums ist nicht möglich. Der Chorleiter muss die folgenden Ideen und Übungen als Grundlage seines eigenen kreativen Prozesses verstehen.